11. April 2008

Wolfgang Koeppen Jugend


Wolfgang Koeppen, geboren in Greifswald, unglücklich in »Pommerland«, erfindet einen, der ihm ähnlich ist, einen, der wie er aus Greifswald stammt und ebenso heimatverdrossen ist. Seinem Protagonisten legt er die Abscheu in den Mund, die anders vielleicht nicht auszusprechen wäre: »Ich haßte die Stadt hinter den Wiesen, die berühmte Silhouette, die der Maler gemalt hatte« (S. 142). Die »Stadt hinter den Wiesen« mit der Universität, mit der Langen Straße, der Hunnenstraße, mit der Nähe zum Fischerdörfchen Wieck und zur Ostsee, ist Greifswald und doch bei aller Deutlichkeit lediglich ein Synonym für die arge Provinz, der es zu entkommen gilt: »ich dachte an Flucht aus dieser Stadt, aus diesem Land, Flucht, Flucht, und ich folgte dem Schauspiel« (S. 127).

Der eine ist in diese Stadt hineingeboren, Sohn eines Ballonfahrers (eigentlich Privatdozent für Augenheilkunde), unehelich, »von Anbeginn verurteilt« (S. 68). Seine Mutter Maria ist jung. Sie ist arm und verlassen. Sie arbeitet als Weißnäherin für die umliegenden Güter, später als Souffleuse im Theater. Maria liebt die Stadt. Sie kennt keine andere. Von ihr wird er das Fahrgeld für ein Nimmerwiedersehen nicht bekommen. Er muss bleiben, als längst Ausgestoßener. Ein nur vermeintlicher Ausweg ist das »Militär-Knaben-Erziehungs-Institut« (S. 44), wo er, zwölfjährig, der nichts ist außer ein »Klotz« (S. 42) – oder schwerer – ein »Stein« am Bein der Mutter (S. 45), plötzlich »Deutschlands Zukunft« (S. 51) wird. Von einer Grippe übermannt, träumt er den »Heldentod«, doch im letzten Moment – wie es scheint – kommt wieder sie, Maria, ihn zu holen, zurück in die Stadt wo seine Jugend spielt und doch nicht spielt: »In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich war mir meiner Jugend nicht bewusst. Ich spielte sie nicht aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch niemand danach. Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab es keinen, der mir glich« (S. 127). Vielleicht glich ihm tatsächlich keiner, in der Zeit, die drängte, doch still stand, zur Zeit des Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik, den beiden Epochen der Jugend. Dennoch gibt es weitere Ausgestoßene, Randfiguren, auf die Koeppen es in seinem Buch abgesehen hat: Käthe Kasch zum Beispiel, Freundin der Mutter, blinde Pianistin, die der Sohn zur Polizeistunde nach Hause begleitet. Sie spielt in der Fledermausdiele bei Rotlicht und »geschwärzten Fenstern« (S. 77) und bezahlt ihn mit Millionen, die doch wertlos sind. Oder Tante Martha, Amtsgerichtsrat, Vormundschaftsrichter, schwul in seiner Art, deshalb verpönt, eben nicht wie die braven Bürger, sondern »gutherzig und angesprochen von Jugend und nicht ohne Zweifel am Gesetz und der allgemeinen Sitte«, vielmehr durchsetzt von »Freundlichkeit« sowie »Einsicht und Trauer gegen die ihm aufgepreßte Strenge« (S. 99). »Tante Martha war eine stadtbekannte Persönlichkeit und gehörte schon längst zu den Menschen, die mich beschäftigten, denen ich heimlich folgte, in die ich mich verwandelte, um sie zu erkennen und wie sie zu träumen« (S. 97). Alles Einbildung, will der Autor uns sagen und schreibt es seinem Verleger: »Es ist mehr Dichtung als Wahrheit. Erinnerungen an eine fremde Jugend, eigentlich Kindheit, Alpträume von einem anderen. Ich habe diese Wohnung nicht bewohnt, war auch nie in einer Militärerziehungsanstalt, verbrachte meine Schuljahre in Ostpreußen und nicht in Pommern, wuchs nicht in einem Milieu extremer Armut auf, aber ich hatte diese Empfindungen, oder sie kamen mir beim Schreiben« (Wolfgang Koeppen an Siegfried Unseld, München, 2. April 1976). Jugend als Autobiographie Koeppens missverstehen, würde demnach bedeuten, den Sinn des Buches vorschnell zu verwischen. Jugend ist kein autobiographisches, es ist ein in höchstem Maße persönliches Buch. Der Text endet, wie er begonnen wurde, mit der Mutter: »Ich schrieb, meine Mutter fürchtete die Schlangen« (S. 142). Die Mutter endet mit dem Ende des Textes, sie stirbt. Jugend ist ein Epitaph: auf die Mutter, auf die Jugend, auf die Literatur. Nur so lässt sich die Enge allen Geschehens lösen, mithilfe der Literatur gelingt die ewige Flucht in die erträglichen Zwischenräume der Phantasie